10. Juni 2023 / Aus aller Welt

Amazonas: Kinder nach 40 Tagen im Dschungel gerettet

Kolumbien erlebt das Wunder, auf das die Welt wochenlang gehofft hat: Die vier vermissten Kinder sind endlich gefunden. Sie leben. Im Krankenhaus ist die Familie wiedervereint.

Soldaten und indigene Männer kümmern sich um die vier Geschwister.
von Denis Düttmann und Juliane Rodust, dpa

«Milagro» - Wunder, mit diesem Wort melden die Soldaten per Funk den erlösenden Erfolg. Nach wochenlanger intensiver Suche sind die vier im kolumbianischen Regenwald vermissten Kinder lebend gefunden worden. Ein doppeltes Wunder, denn die Geschwister im Alter von 13, 9, 4 Jahren sowie einem Jahr überlebten nicht nur einen Flugzeugabsturz, sondern auch 40 Tage im dichten Dschungel.

Ein Suchtrupp der «Operation Hoffnung» aus Spezialeinsatzkräften des Militärs und Indigenen aus dem Department Putumayo habe die vier Kinder letztlich gefunden, wie der General der Streitkräfte, Pedro Sánchez Suárez, auf einer Pressekonferenz nach Ankunft der Kinder in Bogotá erklärte.

Die Kinder wurden rund fünf Kilometer Luftlinie von der Absturzstelle entfernt entdeckt. Über diese Entfernung berichtete die Zeitung «El Tiempo» unter Berufung auf die Streitkräfte des südamerikanischen Landes. Anhand der gefundenen Gegenstände und Spuren konnten die Soldaten den Weg der Kinder rekonstruieren. Demnach entfernten sie sich zunächst von der Absturzstelle vier Kilometer Richtung Westen. Dann stießen sie offenbar auf ein Hindernis und wendeten sich gen Norden.

«Eine Freude für das ganze Land. Die vier Kinder, die seit 40 Tagen im kolumbianischen Regenwald vermisst wurden, sind lebend gefunden worden», schrieb Kolumbiens Präsident Gustavo Petro auf Twitter. Dazu veröffentlichte er ein Foto von Soldaten und Indigenen im Dschungel, die die Kinder mit Wasser versorgten und fütterten.

«Die gemeinsamen Anstrengungen haben diese Freude für Kolumbien ermöglicht», sagte der Kommandeur der Streitkräfte, General Helder Fernan Giraldo Bonilla. Auf Fotos des Militärs waren die Kinder zu sehen, das kleinste auf dem Arm eines Soldaten, die drei anderen auf Plastikplanen auf dem Boden sitzend. Später war in einem Video der Luftfahrtbehörde zu sehen, wie die Kinder in einen Hubschrauber gehoben wurden.

Am Samstag war die Familie wiedervereint. «Ich habe sie besucht. Sie sind sehr erschöpft, die Armen», sagte der Großvater Filencio Valencia der Zeitung «El Tiempo» am Samstag, nachdem er seine Enkel im Militärhospital in Bogotá besucht hatte. «Sie schlafen. Sie sind unterernährt. Sie sind dünn, sehr dünn.»

Auch die Großmutter Fátima Valencia besuchte die Geschwister im Krankenhaus. «Ich weine vor Freude. Die Kinder sind erschöpft, aber ich habe das Fleisch und Blut meiner Tochter zurück.» Die Mutter der Kinder war bei dem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen.

Vater ebenfalls im Krankenhaus

Auch der Vater der Geschwister im Alter von 13, 9 und 5 Jahren sowie einem Jahr beteiligte sich an der Suche. Nachdem die Kinder gefunden wurden, begleitete er sie in das Militärhospital in Bogotá. «Ich bin auch aufgenommen worden. Ich bin krank», sagte Manuel Ranoque. «Ich habe hohes Fieber. Ich habe 40 Tage darum gekämpft, meine Kinder wiederzufinden.»

Präsident Petro besuchte die Kinder am Samstag ebenfalls im Krankenhaus. Der Staatschef informierte sich vor Ort über den Gesundheitszustand der Geschwister. «Die Kinder erholen sich. Sie nehmen Flüssigkeit zu sich. Aber sie können noch keine Nahrung aufnehmen», sagte Verteidigungsminister Iván Velásquez nach dem Besuch.

Der Militärarzt Carlos Rincón Arango sagte, die Kinder hätten eine Reihe leichter Verletzungen und seien mangelernährt. Sie befänden sich angesichts der Umstände aber in einem akzeptablen Zustand. Es würden nun eine Reihe pädiatrischer Untersuchungen durchgeführt. Zudem gelte es, die Kinder wieder zu Kräften kommen zu lassen. Er rechne mit einem Krankenhausaufenthalt von zwei bis drei Wochen.

Einen Vermissten gab es jedoch nach der Rettung der Kinder: Der belgische Schäferhund Wilson, der Medienberichten zufolge Fährten aufgespürt und maßgeblich zum Erfolg der Suche beigetragen hatte, war nicht zu den Einsatzkräften zurückkehrt. Die Suche nach Wilson werde fortgesetzt, kündigten die Streitkräfte an.

Wie kam es zu dem Unglück?

Mit ihrer Mutter waren die Geschwister am 1. Mai mit einer Propellermaschine vom Typ Cessna 206 auf dem Weg nach Bogotá gewesen. Medienberichten zufolge war die Familie auf dem Weg zum Vater gewesen, der nach ständigen Drohungen durch eine Splittergruppe der Guerillaorganisation Farc aus der Region geflohen war. Jedoch stürzte die Maschine, mutmaßlich nach Problemen am Motor, im Department Caquetá im Süden des Landes ab.

Laut einem vorläufigen Bericht der Luftfahrtbehörde kollidierte das Kleinflugzeug mit Baumkronen und stürzte danach senkrecht zu Boden. Die Mutter der Kinder, der Pilot und ein indigener Anführer starben bei dem Absturz. Es wird angenommen, dass der Zusammenstoß mit den Bäumen den Aufprall so stark abbremste, dass der hintere Teil der Kabine kaum beschädigt wurde, weshalb die Kinder überlebten.

Während das Flugzeugwrack gefunden wurde, blieben die vier Kinder verschwunden. Spuren, die die großangelegte Suche unter Einsatz des Militärs zutage brachte, ließen auf ein Überleben der Kinder schließen. Soldaten fanden Schuhe, Windeln, Haargummis, eine lila Schere, eine Babyflasche, eine aus Blättern und Ästen gebaute Notunterkunft sowie halbverzehrte Früchte.

Anhand der gefundenen Gegenstände und Spuren konnten die Soldaten den bisher zurückgelegten Weg der Kinder rekonstruieren. Doch der Regenwald in der Region ist sehr dicht, was die Suche nach den Vermissten erheblich erschwerte. Zudem regnet es praktisch ununterbrochen. Auch verharrten die Kinder offenbar nicht an einem Ort, sondern zogen umher, was die Suche weiter erschwerte. Das Militär warf Lebensmittel und Hilfsgüter aus der Luft über dem Dschungel ab, über Lautsprecher wurde eine Botschaft der Großmutter in der indigenen Sprache der Kinder abgespielt.

Indigenes Wissen könnte den Kindern geholfen haben

Als Teil einer indigenen Gemeinschaft könnte den drei Mädchen und dem Jungen ihre gute Kenntnis der Region und des Regenwaldes geholfen haben, um zu überleben. Ihre Großmutter hatte vor allem auf die älteste Tochter vertraut. «Sie war immer wie die Mutter, sie hat die anderen mit in den Wald genommen», sagte sie zuletzt im Radiosender La FM. «Sie kennt die Pflanzen und Früchte. Wir Indigene lernen von klein auf, welche man essen kann und welche nicht.» Die Kinder hätten sich im Dschungel von wilden Maracujas und Mangos ernährt, teilten die Streitkräfte auf einer Pressekonferenz in Bogotá am Samstagmorgen mit.

Das Überleben der Kinder erinnert an den Fall der Deutsch-Peruanerin Juliane Koepcke, die 1971 einen Flugzeugabsturz im peruanischen Regenwald überlebte und nach zehn Tagen gerettet wurde. Da ihre Eltern als Biologen im Amazonasgebiet forschten, war der damals 17-Jährigen die Umgebung vertraut und sie konnte sich bis zu einem Fluss durchschlagen, wo sie schließlich von Waldarbeitern gefunden wurde.

Staatschef Petro lobte am Freitag die Stärke der Kinder. «Sie waren allein, aber sie haben ein Beispiel des Überlebens gesetzt, das in die Geschichte eingehen wird», sagte er nach seiner Rückkehr aus Kuba, wo er einen Waffenstillstand mit der linken Guerillaorganisation ELN bekanntgegeben hatte. «So sind diese Kinder heute, die Kinder des Friedens, die Kinder Kolumbiens.»

Zwar hat sich die Sicherheitslage nach dem Friedensabkommen 2016 zwischen der Regierung und der Farc verbessert, allerdings werden noch immer Teile des südamerikanischen Landes von illegalen Gruppen kontrolliert. Vor allem Indigene, soziale Aktivisten und Umweltschützer geraten immer wieder in das Visier der kriminellen Banden - so möglicherweise auch der Vater der vier Kinder.


Bildnachweis: © Uncredited/Colombia's Armed Force Press Office/AP/dpa
Copyright 2023, dpa (www.dpa.de). Alle Rechte vorbehalten

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