Als der Angeklagte den Saal im Landgericht Kassel betritt, schnauft er so laut, dass man es bis zu den Zuschauerplätzen hört. Auch als der kräftige Mann mit dem Dreitagebart sich auf die Anklagebank setzt, atmet er deutlich hörbar. Ist er aufgeregt? Oder außer Atem? Wenn ja, warum? Eine Antwort darauf bekommen die Zuschauer an diesem Montagmorgen nicht - ebenso wenig wie auf die zentrale Frage, warum der 31-Jährige vor einem Jahr in eine Kindergruppe im nordhessischen Witzenhausen gefahren sein soll. Auch die Eltern der Opfer sind im Saal - sie treten als Nebenkläger in den Sicherungsverfahren auf. Das soll klären, ob der Mann dauerhaft in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht wird. Denn die Staatsanwaltschaft hält ihn wegen psychischer Erkrankung für schuldunfähig. Der Sachverhalt ist zu Prozessbeginn unstrittig: Am 29. Oktober vor einem Jahr fährt ein Kleinwagen vor einem Kindergarten in eine Gruppe von drei Mädchen. Eine Achtjährige stirbt, eine Sieben- und eine Achtjährige werden schwer verletzt. Dazu werde er sich nicht äußern, sagt der Angeklagte am Montag. Laut den Ermittlern hatte er direkt nach der Tat von einem «Blackout» gesprochen - ihm sei schwarz vor Augen geworden, er könne sich an nichts erinnern. Die Staatsanwaltschaft geht von Absicht aus: Sie wirft dem türkischen Staatsbürger unter anderem Mord, versuchten Mord und gefährliche Körperverletzung vor. «Es ging ihm darum, Kinder zu töten», sagt der Staatsanwalt bei Verlesung der Anklage. Laut Polizei war es unter anderem der Aufprallwinkel des Autos, der die Ermittler nicht an einen Unfall glauben ließ. Und Zeugen hätten von einem abrupten Rumreißen der Lenkung berichtet, als ob der Fahrer einem Tier ausweichen wolle. Zudem soll der Angeklagte zunächst an einer anderen Kindergruppe vorbeigefahren sein. Nach der Tat blieb der 31-Jährige laut Polizei am Tatort: «Er stand gegenüber und starrte auf das Auto», berichtet ein Ermittler. Die Beschreibungen gehen allerdings auseinander: Ein Polizist erzählt von friedlichem, kooperativen Verhalten, ein anderer von aggressivem. Im Krankenhaus sei der Mann dann später ausgerastet. Die Zeugenaussagen vor Gericht zeigen, dass es vor der Tat offenbar Warnsignale gab: Laut Ermittlern war der Mann, der als Essenslieferant arbeitete, polizeibekannt. Ermittlungen wegen Betrugs, Anzeigen wegen häuslicher Gewalt, der Verdacht von Brandstiftung. Einem früheren Chef soll er den Arm verbrüht haben. Seine Ex-Freundin beschreibt ihn als wankelmütig und familiär isoliert. Seine Wohnung hatte er verloren, hatte Geldprobleme, habe kaum noch geschlafen. «Es war zu viel für ihn», sagt sie. Auch eine psychische Erkrankung wird immer wieder erwähnt. Das Wort Schizophrenie fällt mehrfach, eine genaue Diagnose bleibt zunächst unklar. Ein Besuch bei einer Therapeutin soll sich auf das Abholen eines Rezepts beschränkt haben. Die Medikamente habe er wegen Nebenwirkungen nur reduziert oder gar nicht genommen. Eine Blutprobe nach der tödlichen Autofahrt zeigte laut Ermittlern, dass keinerlei Medikamente, Drogen und Alkohol im Blut gewesen seien - also auch nicht das Mittel, das er wegen einer psychischen Erkrankung nehmen sollte. Mehr Fragen als Antworten werfen zudem wirre Kurznachrichten auf, die der Angeklagte am Morgen vor der Tat an seinen Bruder verschickte: «Schütz dich und sag den anderen das auch», schrieb er laut Gericht. «Die» würden «alle» festnehmen. Neben- und Ankläger bemühen sich zwar um Aufklärung, doch vieles bleibt beim Prozessauftakt im Dunkeln. Als eine Frage mal wieder ins Leere läuft, entfährt es dem Staatsanwalt leicht resignierend: «Man ist ja immer auf der verzweifelten Suche nach Motiven.» Bis Mitte Dezember sind drei weitere Verhandlungstage angesetzt.Der Angeklagte sprach von einem «Blackout»
Es gab Hinweise auf eine psychische Erkrankung
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Angeklagter vor tödlicher Autofahrt bereits auffällig
Ein Auto fährt in eine Kindergruppe und tötet ein Mädchen. Vor Gericht lässt sich ein Motiv des Fahrers zunächst nicht erkennen. Zeugenaussagen zeigen aber: Aus dem Nichts kam die Tat wohl nicht.
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